18.04.2017

Keine Statistik zu Fahrradboxen!


Im Dezember 2015 wurden in Frankfurt (Oder) vom Radverkehrsbeauftragten 14 Fahrradabstellboxen offiziell in Betrieb genommen. Zu diesem Thema stellte ich am 03.04.2017 im Internet auf der "Bürgerplattform" drei Fragen an die Stadtverwaltung:

  1. Wie oft wurden im Jahre 2016 insgesamt die Abstellboxen benutzt - bitte Statistik veröffentlichen.
  2. Die Abstellboxen stehen an zwei Orten in Frankfurt. Welche Schlußfolgerungen kann die Stadtverwaltung aus den jeweiligen Nutzerzahlen ziehen?
  3. Welche Kosten sind der Stadt im Jahr 2016 durch den Betrieb der 14 Boxen entstanden?

Am 11. April 2017 beantwortete die Pressestelle meine Fragen auf der Bürgerplattform:

Sehr geehrter Herr Totzauer,
vielen Dank für Ihr Interesse an den Fahrradboxen. Hier nun die Antworten: Es sind keine Auslastungsstatistiken vorhanden, da das entsprechende Statistikmodul nachträglich bestellt werden muss. Daher kann keine seriöse Einschätzung des Standortnutzens gegeben werden, auch weil der Angebotszeitraum mit einer Reisesaison kurz ist. Die monatlichen Kosten liegen bei ca. 7 € Telefonkartengebühr. Hinzu kommen Stromkosten, welche aber gering ausfallen.
Freundliche Grüße Pressestelle

Die Fragen und die Antwort sind hier auf der Frankfurter Bürgerplattform veröffentlicht.


14.04.2017

Reportage an der Oder

Die Schweizer Zeitschrift "Reportagen" veröffentlicht in ihrer Nummer 34 (Mai 2017) den Artikel "Showdown im Dorfladen" der Autorin Nancy Waldmann. Sie beschreibt in ihrem Text ihre Beobachtungen rund um den polnischen Bürger Zdzislaw Matras. In den Jahren 2014 und 2015 war ich ein Akteur in dieser Geschichte. Weiteres Hintergrundwissen liefern die Artikel des MOZ-Journalisten Dietrich Schröder.

Das Gespräch zwischen Frau Waldmann und mir über das Thema "Zdzislaw Matras und die deutsch-polnische Grenze" fand am 29. September 2016 in Frankfurt (Oder) statt.

Showdown im Dorfladen
Klauende Polen und misstrauische Deutsche. Klischees und Konflikt an der Grenze.
Nancy Waldmann

Matras hat in seinem Dorf keinen einzigen Freund mehr. Der Ort ist ein Loch, bestehend aus grau verputzten Häuschen und den Resten altpreussischer Backsteingehöfte, das an keiner Durchgangsstrasse liegt und an keinem See, dafür mitten in der polnischen Pampa, vier Stunden mit dem Auto bis nach Warschau, eine Stunde und einundvierzig Minuten bis nach Berlin, zwanzig Minuten bis zur deutsch-polnischen Grenze. In Matras’ Dorf gibt es wenig Arbeit, dafür wird gern getrunken, mit Vorliebe vor dem Laden, der neben Wein und Bier das Nötigste zum Leben anbietet: Brot, Kefir, Wurst, Kuchen und Seife. Nur Matras kauft dort nicht mehr ein. Die Sklepowa hasst ihn. Ihr gehört der Laden. «Falscher Hund! Lügner!», schimpft sie über ihn. Zdzislaw Matras hat Drohungen erhalten. Jeden Morgen ruft ihn deswegen ein Freund an und fragt, ob er noch lebe. Der Ortsvorsteher boykottiert Matras, indem er von ihm nicht die Grundstücksteuer einsammelt, ein Gefallen, den er allen übrigen Dorfbewohnern tut. Soll er sie dem Amt doch selbst überweisen! Eines Tages lag Matras’ Hund tot vor der Hütte. Er obduzierte das Tier eigenhändig, der Magen war schwarz und voller Löcher. Vergiftet, von der Mafia im Dorf, vermutet Matras. Ein andermal hatte irgendwer sein Grundstück mit brennenden Kerzen umstellt. Grablichter. Matras’ Frau hielt es nicht mehr aus, jeden Sonntag in der Kirche schief angeschaut zu werden. Sie trennte sich von ihm und zog zurück zu ihrem Sohn. Die Schlechtmeinenden halten ihren Ex-Mann für einen «esbek», einen Stasi-Agenten, die Wohlmeinenden für einen Wirrkopf: Möge Gott über ihn richten.
Matras selbst, 65, ist ein kleiner, kräftiger Mann mit strubbeligem Haar, den Bauch hält eine grüne Latzhose. Er ist einer, der darauf achtet, dass die Lichter an seinem Auto in Ordnung sind, damit Kollegen keinen Grund haben, ihn, einen Milizionär a. D., anzuhalten. Oft streut Matras Worte wie «angenommen» und «sozusagen» ein. Ihm fehlen nämlich Beweise, die Zeugen sagen nicht für ihn aus. «Weil sie eine Tradition unsauberer Interessen verbindet», sagt er. Das Gericht der Kreisstadt Slubice hat ihn schuldig gesprochen, wegen Verleumdung des Polizeichefs. Matras habe dem Ansehen Polens geschadet, sagte die Staatsanwältin.
All das, weil er die Nachbarn aus seinem 300-Einwohner-Dorf Lubiechnia Wielka des Diebstahls bezichtigt: eine Bande, sozusagen, die sich drüben in Deutschland Taschen und Kofferräume volllädt. Fahrräder klaut. Und die örtliche Polizei? Hängt mit drin, sagt Matras. Er hat seinen Verdacht einem deutschen Journalisten in der Grenzstadt Frankfurt an der Oder erzählt; irgendwer muss ja schliesslich für Ordnung sorgen, und wenn nicht die Deutschen, wer dann? Für die ist Matras ein Held. Als sie lasen, dass er als Verleumder verurteilt wurde, sammelten sie Geld. 244 Personen spendeten 8.600 Euro. Und besagter Journalist titelte in der Märkischen Oderzeitung, kurz MOZ: «Das Dorf der Fahrraddiebe». User Motzer kommentierte auf der Zeitungs-Homepage: «Leute, spendet weiter für diesen aufrichtigen polnischen Bürger.»
Die Beziehungen zwischen Polen und Deutschen sind so gut wie nie. Das haben sich Politiker in den vergangenen Jahren bei Besuchen in Warschau und Berlin oder bei Fototerminen auf der Oderbrücke in Frankfurt versichert. Nachbarschaft, Zusammenarbeit, offene Grenzen, so heißt das Paradigma. Das sind nicht nur Phrasen, es ist was passiert in der Grenzregion. Zumindest äußerlich: Keine Warteschlangen und Kontrollposten mehr, stattdessen fahren Busse und Fähren über die Oder. Es gibt deutsch-polnische Kindergärten und gemeinsame Stadtratssitzungen. Eine der grössten Errungenschaften: ein Rohr unter der Brücke, das die Heizkraftwerke von Frankfurt und Slubice vernetzt, nicht subventioniert. Natürlich gibt es auch einige gemischte Familien, in denen zweisprachige Kinder heranwachsen.
Der Stichtag der Annäherung war der Abend des 21. Dezember 2007. Damals wurde der Schengenraum vergrössert, die Kontrollen an der Grenze zu Polen wurden abgeschafft. Die Polizeiorchester beider Seiten spielten zum Abschied, Sektkorken knallten nachts um zwölf auf der Oderbrücke in Frankfurt. Wobei vor allem die Polen feierten. Für sie war Schengen ein jahrelang erkämpfter Vertrauensbeweis, nun traten sie dem europäischen Klub bei. Den meisten Frankfurtern aber war bange. Die Kritiker der Grenzöffnung prophezeiten, Deutschland werde zum «Selbstbedienungsladen». Die anderen, die Europa-Freunde, fanden das kleingeistig und vorgestrig, ja peinlich. Als würde man den Polen immer noch unterstellen, zu stehlen. Tatsächlich fällt dieses uralte Vorurteil den meisten Deutschen zuerst ein, wenn sie an Polen denken. Deutsche Polenwitze sind immer solche à la «Kommen Sie nach Polen, Ihr Auto ist schon da». Matras’ Geschichte spielt denen in die Hände, die in den Witzen mehr als einen billigen Lacher sehen. Und sie bestätigt die Zahlen: Seit 2007 wird tatsächlich mehr gestohlen. In den Jahren nach der Grenzöffnung verschwanden dreimal mehr Autos als zuvor. Das Brandenburger Innenministerium zählt inzwischen die Straftaten in den Grenzgemeinden gesondert, weil die Kriminalität höher ist als im Landesinneren. Nahezu die Hälfte der Statistik betrifft Diebstahlsdelikte. In den fünf Jahren, in denen diese Geschichte spielt, werden in Frankfurt (Oder) exakt 2500 geklaute Fahrräder gemeldet.
Zdzislaw Matras hat das Verleumdungs-Urteil angefochten. Nun wird der Prozess gegen ihn zum zweiten Mal aufgerollt. Die streitenden Parteien sitzen im Saal des neu gebauten Kreisgerichts Slubice, das architektonisch den schmucklosen altdeutschen Kasernenbauten der Umgebung ähnelt: innen graue Fliesen und helle Möbel, dazu das Tippen der Protokollantin. Ein polnischer Adler an der Wand, Weiss auf Rot. Matras kommt im dunklen Anzug und leuchtend roten Hemd; wer will, kann sein Outfit als Kampfansage verstehen. Es passt zum Prozess, in dem man manchmal den Eindruck hat, Matras sei der Ankläger, nicht der Angeklagte. Immer wieder ergreift er hitzig das Wort. Neben der Staatsanwältin sitzt der frühere Polizeikommandant Nastulski in zivilem Jackett mit Ellenbogen-Flicken, der als eine Art Nebenkläger auftritt. Matras’ Vorwürfe wurmen ihn. Die junge Staatsanwältin rattert die Anklage herunter, die die zwei deutschen Journalisten hinten auf der Zuhörerbank kaum verstehen. Der Raum ist nicht viel grösser als ein Klassenzimmer, die Akustik schlecht. Das Mikrofon knackt und rauscht, nach einem kläglichen Versuch lässt die Richterin es ausschalten. Bald wird es stickig an diesem warmen Junitag.
Einer der Zuhörer ist Dietrich Schröder aus Frankfurt (Oder), seit 25 Jahren Redakteur für deutsch-polnische Nachbarschaft, der so etwas wie Matras’ Sprachrohr auf der anderen Oderseite geworden ist. Seine Artikel entfachten jene Resonanz, durch welche die Geschichte eine solche Tragweite bekam. Schröder ist ein stämmiger Mann, Mitte 50, mit hoher Stirn und Locken am Hinterkopf. Markenzeichen: ein gestreiftes oder kariertes Hemd, jungenhaftes Grinsen. In den achtziger Jahren hat er in Moskau studiert, über das Russische hat er sich Polnisch angeeignet. Schröder sieht sich in der Pflicht, zu jeder Verhandlung zu kommen. Meist mit dem Rad. Matras betrachtet den Journalisten aus Deutschland als seinen Verbündeten. Schröder begrüsst er mit Händedruck und sagt nicht einfach «Dzień dobry», polnisch für «Guten Tag», sondern «Szacunek!», was ungefähr so viel heisst wie «Respekt». Vorn in der Mitte thront die Richterin. Schröder hofft auf ein «salomonisches Urteil». Also darauf, dass Matras ermahnt und freigesprochen wird. Er glaubt an dessen gute Absichten.
Matras’ Geschichte beginnt an einem Morgen im März 2011 mit zwei geklauten Motorsägen. Geräte im Wert von 6.000 Zloty wurden ihm gestohlen, was rund 1.500 Euro entspricht. Er hatte gleich seine Nachbarn im Verdacht. Da wurde oft gesägt, und der eine hatte bekanntermassen einiges auf dem Kerbholz. Ausserdem führte eine Spur zum Hof nebenan: Da lag ein Stück Draht aus Matras’ Schuppen auf dem Weg. Matras zeigte den Diebstahl an, aber die Polizei behandelte die Sache stiefmütterlich. Matras ist selbst einmal Kriminalinspektor gewesen, vor 1989, als die Polizei noch Miliz hiess; auf diesen Unterschied legt er Wert. Die Ermittlungen wurden nach zehn Tagen ergebnislos eingestellt. Matras, fassungslos, beschwerte sich beim Staatsanwalt, bei der Polizei in Gorzow Wielkopolski und, als das nicht half, beim Gericht. Er hörte sich in Nachbardörfern um, sammelte Hinweise und setzte ein Bild von Verwicklungen zusammen. Leute erzählten ihm hinter vorgehaltener Hand, wer wann wo gesehen worden war, in welchem Verhältnis die Beobachteten zu dem bekannten Dieb von Matras’ Nachbarhof standen sowie zu dessen Komplizen und zu dem Polizeikommandanten. Der sei befreundet mit den Anführern verschiedener Banden und profitiere von deren Geschäften, munkelte man. Für die Zigarettenschmuggler halte er Kanäle über die Grenze frei, Drogendealer lasse er gewähren. Die Truppe um seinen Nachbarn schneide Holz im Sägewerk des Kommandanten, das sie aus dem Wald stehle. Im Gegenzug dulde er meist ihre Raubzüge nach Deutschland.
«Die sind Helden, wenn sie hierher zurückkommen, denn sie haben beim Deutschen geklaut», sagt Matras. Und das ganze Dorf trage mit daran. Den einfachen Leuten würde er die Gier vielleicht verzeihen, nicht aber den verantwortlichen Behörden von Polizei bis Staatsanwaltschaft, wenn sie dieses Verhalten deckten.
Matras’ Rente von 1.500 Zloty, rund 350 Euro, zählt zu den niedrigsten im Land. Seit seine Frau ihn verliess, ist er allein auf seinem Hof. Hühner, Küken und Enten spazieren über das Gelände, auf dem Blumen und weiter hinten ein paar Schrotthaufen wachsen. Zwei Schafe, 20 Kaninchen und auch einen neuen Wachhund hat er, einen Schäferhund-Mischling, Czarek heisst er. Matras tätschelt ihn. Das Grundstück hat er vor zwanzig Jahren gekauft, fast so lang baut er an dem Haus, in dem er alt werden wollte. Jetzt muss er sein Zuhause zu einer Festung ausbauen. «Ich muss es sicherer machen», sagt er. Bald soll eine Firma Kameras am Zaun installieren. Ans Wegziehen hat er trotzdem nie gedacht. Die Frage empört ihn. «Ich gebe doch nicht das Feld frei!» Er deutet mit dem Kopf zum Nachbarhof. Es geht längst nicht mehr um die geklauten Sägen. Sondern um die Würde. Nach all den Erniedrigungen und Verlusten will Matras einfach nicht vor den Schuften einknicken.
Lubiechnia Wielka liegt im Wilden Westen Polens. Sagte man früher so. Denn nur Pioniere, Abenteurer, Banditen und Militärs trauten sich nach dem Krieg in die Terra incognita an der Grenze zum Feind, aus der die Deutschen gerade vertrieben worden waren. Viele der polnischen Neusiedler waren ihrerseits aus dem Osten Polens verjagt worden. Mehr als 40 Jahre lang fürchteten sie, die alten Bewohner könnten zurückkehren, denn so lange dauerte es, bis die Bundesrepublik Deutschland die Grenze anerkannte. Anfang der neunziger Jahre zogen mit der Visafreiheit die Geschäftemacher ein: Basar- und Zigarettenhändler, Autodiebe, Menschenhändler, Bordellbetreiber und «Ameisen», kleine Schmuggler. Seitlich an der Grenzbrücke auf Frankfurter Seite liess die Polizei Gitter anbringen. Damit die Schmuggler vor dem Kontrollposten nicht unerlaubt Marlboro-Stangen auf die Oderpromenade abwarfen. Aber das war früher.
Einmal ertappten Matras und sein Stiefsohn Radoslaw Pluskota den Dieb vom Nachbarhof auf frischer Tat. Pluskota sieht ihn mit einem verdächtig neu aussehenden weissen Gefährt auf zwei schmalen Reifen von der Grenze nach Lubiechnia Wielka radeln. Er greift gleich zum Telefon: «Guck, wahrscheinlich kommt er gleich mit einem geklauten Rad!», sagt Pluskota seinem Stiefvater an der Strippe. Der schleicht sich in sein Auto im Hof, einen Fotoapparat auf dem Schoss. Er will ein Beweisfoto machen, damit der Dieb nicht leugnen kann, dass er mit jenem weissen Rad gefahren ist. Doch der Dieb entdeckt Matras, dreht blitzartig um, Matras im Auto hinterher. Der Dieb sprintet zum Dorfladen, will das Rad verstecken. «Hinter dem Laden», erinnert sich Matras. «Angenommen, es wäre nicht geklaut gewesen, hätte er es doch vor dem Laden abgestellt!» Matras springt aus dem Auto, um noch ein Foto vom Rad zu machen, da will der Dieb ihm die Kamera entreissen. Es kommt zu einem Handgemenge, der Dieb sucht das Weite. Pluskota hat währenddessen die Polizei verständigt. Doch zu einer Verurteilung kommt es nicht. Verfahrensfehler.
Die Sache spaltete das Dorf. Matras bekam einen anonymen Brief mit einer Liste von 30 gestohlenen Fahrrädern zugeschickt. «Zorro» nannte sich der Absender, er schrieb, die Informationen habe er im Dorfladen aufgeschnappt, wo sich die Diebe zwischen Spielautomaten und Milchtheke mit ihrem Treiben und ihren Verbindungen zur Polizei brüsteten. Matras sendete den Brief an die Staatsanwaltschaft. Häuser wurden durchsucht, aber nur ein Rad sichergestellt. «Lächerlich!», sagt er. Die Schwester eines Bandenmitglieds stand auf Matras’ Hof, betrunken, blutig geschlagen, berichten Matras und Pluskota. Sie wisse, wo die übrigen geklauten Räder seien, sagte sie. Matras gab alles an die Polizei weiter. Daraufhin erschien einer der Komplizen in seinem Haus und drohte ihm mit dem Tod, werde er nicht den Mund halten.
Jetzt müsse Warschau einschreiten, dachte Matras. Auf der Webseite des Büros für Innere Angelegenheiten der polnischen Polizei las er von Beamten, die ihren Job verloren hatten. Weil sie sich eine Flasche Wodka schenken oder mit 50 Zloty von Verkehrssündern bestechen liessen. Das überzeugte ihn. Elf Seiten lang ist der Brief an die Korruptionsbekämpfer, in dem Matras seine Erlebnisse mit der Polizei nach dem Sägenklau mitteilt, fahrlässige Ermittlungsfehler samt dem Verdacht gegenüber dem Polizeikommandanten. Vertraulich. Handgeschrieben. Auf kariertem Papier, in der Schrift eines Grundschullehrers. Bevor er Milizionär wurde, hatte er als Lehrer gearbeitet. «Es liegt uns allen daran, dass die Polizei vorschriftsgemäss und effektiv handelt, deswegen stimme ich euch zu, dass ‹schwarze Schafe aus diesem Umfeld eliminiert werden müssen›», beendete Matras den Brief. Bevor er ihn abschickte, beriet er sich mit seinem Stiefsohn und alten Kollegen von der Miliz. Sie ermutigten ihn.
Vier Monate später landete der Brief auf dem Schreibtisch des beschuldigten Polizeikommandanten Janusz Nastulski, Mitte 40, der im Nachbarort lebt in einem neupolnisch eingerichteten Haus, mit Fliesen auf dem Boden statt Teppichen an den Wänden, ähnlich wie Matras’ Wohnzimmer. Nastulski, inzwischen verrentet, trägt das dünne Haar zurückgekämmt. Er sieht aus wie ein Sportler, der nach dem Training ein Bier trinkt, er spielt Fussball im Verein von Lubiechnia Wielka. Auch bei der Frankfurter Polizei kennt man ihn. Nastulski erstattete gleich Anzeige – gegen Matras. Ehrensache. «Ich habe Freunde und bin ein anerkannter Bürger in der Stadt und bei den Kollegen. Und dieser Matras? Hat alle gegen sich. Der ist krank!», sagt Nastulski. Statt einer Antwort vom Büro für Innere Angelegenheiten erhielt Matras eine Vorladung vors Gericht.
«Geh nach Deutschland zur Zeitung!», riet ihm ein Kumpel, der nach Berlin ausgewandert ist. «In Polen werden alle geschlossen den Kommandanten verteidigen. In Deutschland beurteilen sie das objektiv.» Sie fuhren zusammen nach Frankfurt an der Oder, zur Redaktion der Märkischen Oderzeitung (MOZ). Die frühere Bezirkshauptstadt bietet vom Osten her eine Silhouette aus Kirchtürmen und Hochhäusern, ist man drin, wirken die mehrspurigen Strassen leer und ordentlich. Frankfurt an der Oder wurde gebaut für 100 000 Menschen. Jetzt sind nur noch 58 000 da. Arbeit ist rar.
Der Kumpel sollte dolmetschen. Matras ahnte nicht, dass er auf Dietrich Schröder treffen würde. Schröder lebt in Frankfurt an der Oder, berichtet regelmässig aus Westpolen. Oft von Gerichtsverfahren gegen Diebesbanden, das interessiert die Leser seiner Zeitung brennend. Schröder ist seit vielen Jahren teilnehmender Beobachter in der Grenzregion, hat einen deutsch-polnischen Journalistenklub mitbegründet. «Unter Nachbarn muss auch über Probleme geredet werden!», sagt Schröder in breitem Dialekt, der in seine Heimat verweist, Thüringen. Als Matras zu ihm gekommen sei, sei das für ihn ein seltenes Geschenk in seiner langen Berufslaufbahn gewesen. Tatsächlich brachte die MOZ Matras’ Erzählung brühwarm. Auf seine Nachfrage bei der Polizei in Gorzow habe er nie eine Antwort bekommen, sagt Schröder, bei Nastulski hat er es gar nicht erst versucht. «Die Aufklärung grenzüberschreitender Kriminalitätsfälle verläuft häufig im Sande», beginnt der Artikel. Matras’ Erlebnisse würden ein besonderes Licht darauf werfen.
Jene wenigen Kriminalfälle aber, die aufgeklärt werden, zeigen: Der Anteil an Diebstählen, die durch Polen begangen wurden, ist hoch. Die Diebe haben ihr Geschäft nach Deutschland verlagert und bringen die Beute schnell nach Polen, in einen anderen Rechtsraum, wo sie nicht ohne weiteres verfolgt werden können. International organisierte Banden sind am Werk, aber auch Gelegenheitstäter. Dorfbewohner postieren sich gegen die Einbrecher und Diebe, gehen nachts auf Streife. Manche Gruppen werden von Nazis unterwandert, mit anderen arbeitet die dezimierte Polizei in «Sicherheitspartnerschaften» zusammen, weil sie selbst nicht da sein kann. Viele Ostdeutsche in der Grenzregion fühlen sich verarscht, einem politischen Prestigeprojekt geopfert.
Die Politik hält dagegen: mehr Streifen, mehr Bereitschaftspolizei in der Grenzregion, deutsch-polnische Ermittlungsgruppen. Ein Polizeiabkommen ermöglicht seit 2015, flüchtigen Verdächtigen über die Grenze nachzueilen und die Verfolgung den Polen zu übertragen. Mehr Straftaten werden dadurch nicht aufgeklärt. Zuletzt haben Wohnungseinbrüche zugenommen, die Statistik bleibt durchwachsen.
Die Frankfurter lesen wieder von Matras, als er das erste Mal wegen Verleumdung vor Gericht steht. Radfahrer brechen zu einer Solidaritätstour nach Lubiechnia Wielka auf, zum Whistleblower, wie sie ihn nennen. Sie demonstrieren vor dem Slubicer Gericht, hängen Schilder an den Zaun. «Warum schützt uns niemand vor Fahrraddieben und organisierter Kriminalität?», steht da auf Deutsch, oder: «Solidarität mit Zdzislaw Matras». Aber der wird schliesslich verurteilt zu zwei Jahren auf Bewährung plus 2.000 Zloty Strafe, etwa 465 Euro, und noch einmal so hohen Gerichtskosten. «Herr Matras braucht jetzt unsere Empathie aus Deutschland. Er hat sich entschlossen, gegen das Urteil in Berufung zu gehen», lautet der Spendenaufruf. Matras ist ihr Ritter des Rechts. Dietrich Schröder bezeugt die Geldübergabe und berichtet von jeder Gerichtsverhandlung. Er ist längst kein neutraler Beobachter mehr. Wie auch?
Roland Totzauer, Rentner, vorher Arbeitsloser, jetzt Initiator des Spendenaufrufs und der Demo, wurde vor fünf Jahren sein Rad aus dem Schuppen gestohlen. Sein gutes, ein Stevens, für die Touren, die er seit zehn Jahren regelmässig über die Oder organisiert. Aus Solidarität mit Rentnern, die wie er wenig Geld hätten und die sich allein nicht nach Polen trauten, sagt er. Die Radler führt er in Dörfer mit alten deutschen Kirchen, Mühlen, Angern und Marktplätzen. Unterwegs kehrt man in einen polnischen Imbiss ein und fährt nach 40, höchstens 50 Kilometern wieder zurück. Die Routen für die kommende Saison, vier durch Ostbrandenburg, vier durch Ostpolen, sind schon geplant und veröffentlicht. Versichern sollte man sein Rad selbst, darauf weist er auf seiner Website hin.
Weisses Hemd, blaue Weste, Baskenmütze, wie ein Wandervogel sitzt Totzauer im Café in Frankfurt. Matras’ Schilderungen hätten ihn nicht überrascht, sagt er. Die Ursache für die gestiegene Kriminalität ist für ihn klar: das ökonomische Gefälle dies- und jenseits der Grenze. In Polen gebe es Leute, die nichts hätten. Sie täten sich zusammen zu einer Gang, sicherlich machten auch Deutsche mit, vermutet er. «Wir hier in Frankfurt/Oder sind zerrissen. Einerseits wünschen wir uns die Kontrollen zurück, andererseits geniessen wir die offene Grenze, die neuen Konsum- und Erlebnishorizonte. Wir sehen ja jeden Tag auf der Strasse, dass die Polen nette Leute sind. Und gleichzeitig sehen wir, wie polnische Männer und Frauen in kleinen Gruppen mit alten Karren durch Frankfurter Strassen rollen und Mülltonnen am Strassenrand durchwühlen.» Totzauer ist ein reflektierter Mann, Matras tat ihm leid, daher der Spendenaufruf und die Demo. Kommuniziert hat er mit ihm nur über Schröder, Polnisch spricht er nicht.
Totzauer ist in den 1970er Jahren einmal durch Polen getrampt. Wie schön es war beim Jazzfestival in Warschau, erinnert er sich. Jetzt isst er gelegentlich eine Wurst drüben, aber sonst lasse er seine Euro auf deutscher Seite. Auch das neue Rad, das er mit drei Schlössern absichert, kaufte er lieber diesseits der Oder. «Ich will ja die heimische Wirtschaft stärken», sagt Totzauer. Dabei weiss er auch, dass viele Slubicer in seiner Stadt einkaufen. Gegen das Chaos der Grenzenlosigkeit behilft er sich mit einer populären Denkweise: Hier sind wir und da die anderen. 2014 hat er bei den Landtagswahlen die AfD gewählt, deren Programm: die Wiedereinführung der Grenzkontrollen. Auf der anderen Seite der Oder, in Polen, ist eine nationalkonservative Regierung schon an der Macht; hier dominiert die Abschottung.
Beata Bielecka, viele Jahre Lokalreporterin der Gazeta Lubuska in Slubice, ärgert sich über die in ihren Augen einseitige Artikelreihe ihres Kollegen Schröder. Man kennt sich, gehört zur gleichen Generation. Früher teilte man auch den Berufsstand, da arbeitete Bielecka noch als Journalistin. Jetzt ist sie Pressesprecherin im Slubicer Rathaus. «Wie ein Verschwörungstheoretiker sucht Matras immer eine zweite Ebene. Seine Vorwürfe sind schliesslich nicht bewiesen», sagt sie. Ein ganzes Dorf bewerfe er mit Dreck. Verallgemeinerungen reproduzierten doch nur Stereotype, sagt Bielecka in ihrem gläsernen Büro, das gleich neben dem Gericht liegt. Bielecka, rundes Gesicht, legerer Kurzhaarschnitt, ist vom Schlag herzlich und resolut, was man nicht gleich bemerkt, wenn man ihre helle Stimme vernimmt. Im Gegensatz zu Schröder, der zu den Gerichtsverhandlungen geht, hörte sich Bielecka im Dorf über Matras um, bevor sie einen kritischen Artikel über ihn schrieb, Titel: «In Deutschland ein Held, in seinem Dorf: Feind Nr. 1». Am Ende zitierte sie den Satz eines Bewohners, den Matras später im Dorf noch oft hören sollte: «Der Vogel hat eine böse Art, der sein eigenes Nest nicht spart.» Schröder findet, seine Kollegin habe das gut gelöst, denn die Sache sei heikel für sie. Das ist das Janusgesicht von Matras’ Geschichte: Es hängt so viel davon ab, auf welcher Seite man steht.
Es gibt das polnische Bild von den zivilisierten Deutschen, das Matras pflegt, und auch eins von den reichen und mächtigen Deutschen, den Nachkommen der Nazis, denen man sich unterlegen und moralisch überlegen fühlt. In der Grenzregion ist man auf sie angewiesen. Weil sie die Preise festlegen mit ihrer Nachfrage. Weil man immer noch zu ihnen geht zum Geldverdienen, auf ihren Baustellen arbeitet, ihre Alten pflegt. Weil die begabten polnischen Kinder aufs deutsche Gymnasium gehen, nicht umgekehrt. Da betrachten manche das Stehlen als einen Hieb gegen das System. Die Gazeta Lubuska schrieb einmal über junge Beschäftige, die täglich zur Arbeit in Logistikzentren nahe Berlin pendeln und ihre Arbeitgeber bestehlen. Irgendwie müsse man den schlechten Lohn aufbessern, sagten sie. Also lasse man immer mal eine Boss-Jeans oder eine teure Lederjacke mitgehen und präsentiere sie wie Trophäen zu Hause. «Es gibt eine innere insgeheime Zustimmung bei vielen», sagt Beata Bielecka, die Pressesprecherin. Eine Rechtfertigung sei, dass man Polen immer noch aufbaue, nachdem die Deutschen das Land besetzt und in den Ruin getrieben hätten.
«Nach Deutschland fahren ist Psychoanalyse», schrieb der Schriftsteller Andrzej Stasiuk in seinem Buch Dojczland. In dem Land habe schliesslich ein paar Jahre der Teufel gewohnt. Man ist, in der eigenen polnischen Vorstellungswelt, immer mit dem Niedersten und Schlimmsten konfrontiert, was der Mensch zu bieten hat. Mit SS-Männern, mit der von den Nazis erschossenen Grossmutter. So hält es der reisende Held in Dojczland nur mit viel Jim Beam im Rucksack und mit viel Distanz zu den Deutschen aus, die darin kaum vorkommen. Ohne Deutsche wäre Deutschland schön, heisst es in dem Buch. Natürlich steckt darin viel Sarkasmus, doch hilft es vielleicht dabei, die Distanz zwischen hier und drüben zu verstehen.
Die Praxis des Sich-Durchlavierens – die Polen haben dafür das Wort «wykombinowanie» – war eine Überlebensstrategie der Polnischen Volksrepublik, vielleicht auch schon früher. Matras lehnt das ab. «Ein ordentlicher Bürger» zu sein, darauf kommt es für ihn an. Haltung bewahren, egal in welchem System. Matras erzählt gern die Geschichte, wie er sich nach der Wende das Vertrauen seines künftigen Chefs erwarb. «Irgendwoher kenne ich Sie, aber woher?», sagte dieser, als sich die beiden Männer 1990 zufällig begegneten. Das Land war längst im Umbruch. «Ich habe Sie verhört», entgegnete der Ex-Milizionär Matras. «Na, das wollte ich von Ihnen hören!», sagte der Chef. «Haben Sie Arbeit?» Matras hatte den Dienst 1989 quittiert. Von sich aus, sagt er.
Als Kind der Nachkriegszeit gehörte Matras zur niederen Kaste. Seine Eltern waren keine Widerstandskämpfer gewesen, sondern Zwangsarbeiter auf einem deutschen Hof. Ein deutscher Wachmann half, dass seine Mutter als junges Mädchen der Verschleppung entgehen konnte. So wurde in seiner Familie positiver über Deutsche gesprochen als damals offiziell gewünscht. Nun steht er wieder auf der falschen Seite. «Pass auf, dass sie dir deinen Matras nicht klauen!», ruft man sich im Dorfladen zu. Also dein Fahrrad. Zwischen Wurst, Seife und Alkoholgeruch ist er ein nervöser Witz geworden. Durch die Ladenbesitzerin Sklepowa hatte Matras seine Ex-Frau kennengelernt, die beiden Frauen waren lange befreundet gewesen. Die Sklepowa war es auch, die das Ehepaar warnte, wenn die Bande wieder drohte, Matras’ Schuppen oder Auto anzuzünden. «Seinetwegen sind wir jetzt zerstritten», sagt sie und sitzt schon wieder am Spielautomaten. «Sie hat den Dieben, die Schulden bei ihr hatten, mehrere Räder abgekauft», sagt Matras über sie in seinem Garten. «Aber das kann ich nicht beweisen. » Die Sklepowa poltert zurück, er unterstelle ihr, sie habe vor Gericht falsch ausgesagt. Sie behauptet, Matras habe einem Zeugen Schnaps in den Kaffee geschüttet und ihm Aussagen über den Kommandanten entlockt. «Das mit den Diebstählen hat der Matras doch frei erfunden! Der wollte nur Geld von den Deutschen!» Vom Ortsvorsteher, der im letzten Haus in der Strasse wohnt, hört man keinen Vorwurf von Kumpelei mit den Deutschen. Aber dass Matras ein böses Gespenst des Kommunismus sei, das scheint für ihn klar.
Pluskota. Er lebt im nächstgrösseren Ort, nicht weit weg vom Polizeikommandanten Nastulski, und lobt Matras als hervorragenden Ermittler. «Es geht um die Wahrheit und den guten Namen!», sagt er zu seiner Mutter. Sie hält den Krieg, den ihr Ex-Mann führt, für aussichtslos. «Der spinnt!» Er habe sie hinausgeworfen. Habe sich plötzlich wichtig gefühlt mit dem Geld von den Deutschen. Sieben Jahre lang waren sie ein Paar. In Lubiechnia Wielka fühlte sie sich irgendwann wie im Gefängnis. Ihr Mann verbot ihr, ins Dorf zu gehen, aus Sicherheitsgründen. Auch sie hatte beobachtet, dass der Hof der Nachbarn ein Umschlagplatz für alles Mögliche war. «Ukraina» nennen die Leute das Dorf. Ukraine, wie Gesetzlosigkeit und krumme Geschäfte. Nichts habe Matras dagegen erreicht, nur ihren Sohn in Bedrängnis gebracht, wettert sie.
Pluskota arbeitet eigentlich bei der Grenzpolizei, ist aber vom Dienst suspendiert. Wegen der Sache gegen Matras hat er ein eigenes Verfahren am Hals. Der Vorwurf: Verrat von Dienstgeheimnissen. Er will zurück in den Dienst, habe noch «Dinge zu erledigen». Sein Chef bemühe sich, ihn loszuwerden. Pluskota, Ende 30, ist voll stiller Wut, die er durch Fernsehen zu zerstreuen versucht. «Es hat sich nichts geändert!», sagt er. «Schauen Sie den Film Drogowka. Das ist die polnische Wirklichkeit!» Drogowka ist ein brutaler, düsterer Krimi, 2013 der meistgesehene Film in Polen. Eine Polizistenclique, die Autofahrer bei Bestechungsversuchen heimlich filmt und diese dann erpresst, eine Vergewaltigung, schliesslich ein Mord, der Polizei und Politik als einen mafiösen Haufen entlarvt.
Im Gerichtssaal stehen Matras und Pluskota nun wie die Outlaws da, der Tag der zweiten Verhandlung ist gekommen. Das Berufungsgericht hatte angemerkt, dass beim ersten Verfahren wichtige Zeugen nicht geladen gewesen seien. Jetzt sind neue da, aber die helfen Matras auch nicht weiter. Diejenigen, die seine Informationen bestätigen könnten, fürchten offensichtlich um ihre Haut, verleugnen den Kontakt zu ihm oder erinnern sich nicht. Matras und sein Anwalt lassen Autokennzeichen prüfen, fordern alte Polizeiakten an, dazu Dokumente über Nastulskis Stromverbrauch, um sein Sägegeschäft nachzuweisen. Nichts überzeugt das Gericht. Als Pluskota aussagt, versucht die Staatsanwaltschaft, ihn in die Enge zu treiben.
Dann gibt es eine Pause, Warten im Gerichtsflur auf einen vielleicht entscheidenden Zeugen, der schon zwei Mal gefehlt hat. Schröder erzählt, er habe Gerichtsverfahren gegen Diebe erlebt, da seien nie alle Angeklagten da gewesen. «Wilde Zeiten», resümiert er. «Vielleicht macht die Regierungspartei von Kaczynski Ordnung?» «Merkel sollte freigestellt werden, damit sie Ordnung bei uns macht! Vorher geht gar nichts. Das ist eine Kulturfrage», wirft Matras ein. Pluskota stimmt zu: «Das ist pathologisch!»
Dann wird die Verhandlung fortgesetzt. Das Mikrofon auf dem Flur knackt, die Beteiligten im Fall Matras werden hereingerufen. Die Staatsanwältin verzichtet diesmal darauf, dem Angeklagten unpatriotisches Handeln vorzuwerfen. Eine Erklärung zu Matras’ Motiv bleibt sie schuldig – und verurteilt ihn stattdessen noch einmal zu derselben Strafe wie schon bei der ersten Verhandlung: zwei Jahre auf Bewährung, 2.000 Zloty plus die Gerichtskosten, die sich nun vermehrt haben.
Als Schröder, Matras und sein Anwalt das Gebäude verlassen, sprechen sie nicht viel. Schröder schwingt sich ernüchtert auf sein Rad und fährt zurück nach Frankfurt, um über den Ausgang des Verfahrens zu schreiben. «Zdzislaw Matras erneut verurteilt», so wird der Titel des Artikels lauten, der noch am selben Tag online erscheint. Dazu ein vor längerer Zeit geschossenes Foto des Beschuldigten: Matras in Lederjacke, mit Kappe, kraus gezogener Stirn, vor dem Ortseingangsschild von Lubiechnia Wielka, der Blick kritischer als jener Sherlock Holmes’.
Nachdem Schröder sich verabschiedet hat, steht Matras allein vor dem Slubicer Gericht mit seinen Aktenordnern und blickt auf die Brache davor, die 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg noch nicht wieder bebaut ist. Seine zweite Berufung gegen das Urteil wird abgelehnt. Für die letzte Instanz, das Oberste Gericht in Warschau, hat er kein Geld mehr.

Eine komplizierte Beziehungskiste
«Solange Mond und Sonne scheinen, wird nie ein Deutscher eines Polen Freund!», so lautet ein polnisches Sprichwort. Einmal nähern sich die Staaten an, dann wiederum ist von einer Abkühlung der Beziehung die Rede. Deutschland wird oft als der arrogante Nachbar wahrgenommen, besonders im Wahlkampf werden gern antideutsche Parolen bemüht. Doch wenn es um Polens Abgrenzung zu Russland geht, dann will das Nato-Land auf den Nachbarn Deutschland, ebenfalls Nato-Mitglied, als Verbündeten zählen können. Ein Knackpunkt ist zum Beispiel auch die Frage, welche Rolle das EU-Mitglied Polen in Europa spielen möchte.

Besuche beim Nachbarn
Das Deutsch-Polnische Barometer, ein Projekt der Bertelsmann-Stiftung, des Instituts für Öffentliche Angelegenheiten und der Konrad-Adenauer-Stiftung, veröffentlicht regelmässig einen Überblick der Meinungen von Polen und Deutschen zu den deutsch-polnischen Beziehungen. Letztes Jahr publizierte es erstaunliche Fakten: Zirka 70 Prozent der Deutschen waren noch nie in Polen. Aber auch zirka 70 Prozent der polnischen Befragten geben an, noch nie in Deutschland gewesen zu sein. Die Zahl der Ostdeutschen, die Polen mindestens einmal besucht haben, ist deutlich höher, und ihr Polen-Bild ist deutlich besser als jenes von Westdeutschen. Räumliche Nähe und Kontakte sind also wichtig bei der Meinungsbildung über ein Land und seine Menschen.

Autorin
Nancy Waldmann engagierte sich Jahre bevor sie Journalistin wurde, unter anderem in einem Verein für Völkerverständigung, der Deutsche nach Polen begleitete, die ihre Wurzeln erforschen wollten. Sie wollten auch mit den Menschen sprechen, die heute in ihren einstigen Häusern wohnen. «Die Deutschen hatten Muffensausen vor der Reise, Angst um ihr Auto», sagt Waldmann. «Jetzt kommen sie besser zurecht, haben weniger Bedenken, heute stört noch die Sprachbarriere.» Damals habe sie den Dialog auf einer Mikroebene begleiten wollen, das habe sehr gut funktioniert. «Viele der Menschen, die im heutigen Westpolen leben, hatten ein ähnliches Schicksal wie die Deutschen, sie waren Vertriebene aus Ostpolen.»